Offener Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt, an die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau sowie an die Lokalredaktion des Darmstädter Echo

zu den Geschehnissen auf dem Weihnachtsmarkt der Michaelsgemeinde und der Kritik an deren Pfarrer und Gemeindevorstand

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,sehr geehrte Verantwortliche bei der EKHN,sehr geehrte Journalistinnen und Journalisten der Lokalredaktion des Darmstädter Echo,

die Aktiven im Darmstädter Friedensbündnis sind erschrocken über die völlig überzogene mediale und politische Skandalisierung der Präsenz von "Darmstadt4Palestine" auf dem Weihnachtsmarkt der Michaelsgemeinde. Wir kennen Manfred Werner, den Pfarrer dieser Gemeinde, aus früherer Zusammenarbeit. Er ist für uns keinesfalls des Antisemitismus verdächtig, und wir haben gleich nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe das Gespräch mit ihm gesucht. Sie haben dies leider nicht für nötig gehalten, bevor Sie Ihre öffentlichen Stellungnahmen abgegeben haben.

Schon diejenigen, die die Bilder der Veranstaltung an die Medien weitergegeben haben, verfolgten offenbar nur das hinterhältige Interesse, einen medienwirksamen Skandal zu produzieren. Wäre es diesen nur um die Präsenz von problematischen Symbolen und Aussagen bei dem Weihnachtsmarkt gegangen, dann hätten sie die Kirchengemeinde aufmerksam machen und um Entfernung bitten können.

Und Sie, Herr Oberbürgermeister, haben noch am gleichen Tag die Deutungen der pro-israelischen Lobbyorganisation "Honestly Concerned" und die massive Denunziation der Kirchengemeinde durch die Bildzeitung direkt übernommen, ohne der Gemeinde und insbesondere Pfarrer Manfred Werner eine Möglichkeit zu geben, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Im Übrigen möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, dass beim Internationalen Begegnungsfest, zu dem Sie im vergangenen Mai eingeladen hatten, an einem der Stände ganz ähnliche Gegenstände ausgelegt waren wie bei dem skandalisierten Weihnachtsmarkt.

Sie, die Verantwortlichen der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau, haben sich leider- so weit wir wissen ebenfalls ohne Rücksprache mit Ihrem Angestellten - für maßlose personelle Konsequenzen entschieden, einschließlich der Kriminalisierung durch eine Anzeige wegen Volksverhetzung. Ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber werden Sie damit nicht gerecht. Außerdem schüchtern Sie alle ein, die bei schwierigen Themen Raum für eine offene Diskussionen schaffen wollen. Das ist ganz im Sinne derer, die die Skandalisierung in Gang gesetzt haben, und schadet der demokratischen Kultur innerhalb und außerhalb Ihrer Institution. Wir fordern Sie deshalb dazu auf, Manfred Werner nach einer sachlichen Klärung der Vorgänge um den Weihnachtsmarkt wieder zu seiner Gemeinde zurückkehren zu lassen.

Die sehr einseitig berichtende Lokalredaktion des Darmstädter Echo, der Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt und die Verantwortlichen der EKHN: Durch die Tabuisierung der Kritik an der israelischen Politik und das Ausgrenzen pro-palästinensischer Sichtweisen tragen Sie gemeinsam dazu bei, Räume für den gesellschaftlichen Dialog zu schließen. Im konkreten Fall trifft dies nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch ganz unmittelbar zu, denn der Weihnachtsmarkt der Michaelsgemeinde ist als Ort für den Austausch von Generationen, Kulturen und auch von politischen Richtungen gedacht. Wir müssen leider auch insgesamt feststellen, dass die Räume für eine freie Debatte in Deutschland insgesamt schrumpfen und sehen darin eine große Gefahr für die Demokratie.

Auch bezüglich der Bewertung der am Infostand vermittelten politischen Inhalte machen Sie es sich allzu leicht, indem Sie diese im Fahrwasser der Bildzeitung nach den Maximen der deutschen Staatsräson verurteilen. Gedankenlos tabuisieren Sie Aussagen oder "Narrative", über die man nach unserer Auffassung in Deutschland sprechen dürfen muss und die auch Sie ernsthaft prüfen sollten.

So kann die Parole "From the river to the sea, Palestine will be free" und auch die Darstellung einer entsprechenden Landkarte für die Forderung nach einer Einstaatenlösung stehen. Demnach würden alle Menschen auf dem Gebiet des historischen Palästina in einem gemeinsamen demokratischen, vielleicht stark föderalen Staat leben. Wenn die Lokalpresse Interesse an unterschiedlichen Sichtweisen gehabt hätte, wäre unsere Kundgebung "Für einen gerechten Frieden in Nahost" im Juni dieses Jahres eine gute Gelegenheit gewesen, auch Positionen jenseits des politischen Kanons kennen zu lernen. Eine Rednerin aus dem Umfeld der pro-palästinensischen Bewegung stellte damals fest, dass "aufgrund des illegalen Siedlungsbaus palästinensische Staatlichkeit de facto nur ein deutsches Lippenbekenntnis ist, ohne Chancen auf Realisierung" und forderte deshalb "eine offene, inklusive und säkulare Gesellschaft" für das historische Palästina zurück. Es muss möglich sein, diese Forderung zu stellen und darüber zu diskutieren, ohne als antisemitisch oder als Hamas-Anhänger ausgegrenzt zu werden.

Die als Holocaust-Verharmlosung kritisierte Parole "Never again for everyone" hat ihre Wurzel vermutlich in dem Plakat "Nie wieder Krieg" von Käthe Kollwitz aus dem Jahr 1924. Die Parole erschien später als "Nie wieder!" auf Mahnmalen an ehemaligen KZ und wurde von der Friedensbewegung als "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" aufgegriffen. Nach dem furchtbaren Massaker am 7.10.2023 wird sie aktuell sehr breitenwirksam in der Form "Nie wieder ist jetzt" verwendet, offenbar um darauf hinzuweisen, dass eine neue Welle von mörderischem

Antisemitismus drohe, der zu ähnlichen Folgen wie damals führen könne. Hierzu gab es Wortmeldungen insbesondere von kritisch-jüdischer Seite, die diese Variante der Parole als Verharmlosung der Shoah wahrnehmen. Folgt man dieser Sichtweise jedoch nicht, dann kann auch die Verallgemeinerung auf alle Menschen und insbesondere auf diejenigen in Gaza (also das "Never again for everyone" vom Weihnachtsmarkt) nicht verwerflich sein. Denn die Menschenrechte sind unteilbar! Die Palästinenserinnen und Palästinenser müssen das Recht haben, aus der deutschen Vergangenheit Forderungen abzuleiten, die ihr eigenes Volk betreffen.

Und drittens muss es auch in Deutschland möglich sein, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern als Genozid zu bezeichnen. In Gaza wurden im letzten Jahr zehntausende Menschen getötet, im Westjordanland wird die Bevölkerung von Siedlern terrorisiert und insgesamt entzieht Israel dem palästinensischen Volk komplett die materiellen und kulturellen Lebensgrundlagen. Der Internationale Gerichtshof vermutet, und zuletzt hat amnesty international sogar klar festgestellt, dass Israel einen Genozid begeht. Es kann nicht sein, dass die Verwendung eines entsprechenden Narrativs in Deutschland als antisemitisch tabuisiert wird.

Unabhängig davon, wie man die entfesselte militärische Gewalt gegen die Menschen in Gaza politisch einordnet: Wenn die vielzitierten westlichen Werte mehr sein sollen als selbstgerechte Propaganda, dann müsste es ganz oben auf der Tagesordnung stehen, dass das Töten, Traumatisieren und die Zerstörungen im Gaza-Streifen beendet werden. Dann müsste über die militärische, diplomatische und politisch-propagandistische Unterstützung der israelischen Politik durch Deutschland geredet werden, und wir alle müssten darauf hinwirken, dass diese Unterstützung endlich aufhört.

Der Weihnachtsmarkt der Michaelsgemeinde ist ein kleiner lokaler Vorfall und sollte auch als solcher behandelt werden. Der ungelöste Konflikt im Nahen Osten und dessen aktuelle Eskalation ist eine humanitäre und politische Katastrophe von weltgeschichtlicher Bedeutung, bei der Deutschland keine gute Rolle spielt. Wir wünschen uns auch von Ihnen mehr Einsatz, zur Lösung der Probleme beizutragen, anstatt eine Seite des Konflikts zu ignorieren oder sogar aktiv zum Schweigen zu bringen.

Mit freundlichen Grüßen

Die Aktiven des Darmstädter Friedensbündnis