Ohne Widerstand wächst die Kriegsgefahr

Interview mit Anne Rieger

Der 26. Kasseler Friedensratschlag findet am Wochenende 7. und 8. Dezember unter dem Motto "Nein zum Krieg - Abrüsten statt Aufrüsten - Atomwaffen verbieten" statt. Über 40 Rerenten aus der ganzen Breite der bundesdeutschen Friedensbewegung sprechen unter anderem zu Klima und Frieden, der NATO-Aggression gegen Russland oder dem Verbot von Atomwaffen. UZ sprach im Vorfeld mit Anne Rieger, einer der Mitorganisatoren des Friedensratsschlags.

UZ: Panzer rollen durch Deutschland gen Osten an die russische Grenze. Anfang Oktober übten deutsche, US-amerikanische und andere Mitiltäreinheiten im Rahmen der NATO-Militärübung "Steadfast Noon" den Atomkrieg über Deutschland. Wie schätzt die Friedensbewegung die aktuelle Kriegsgefahr ein?

Anne Rieger: Die Kriegsgefahr wächst enorm. Die Profite der Konzerne weltweit lassen sich nicht mehr der kapitalistischen Notwendigkeit entsprechend realisieren. Die Ausbeutung von Natur und Menschen gerät an die Grenzen. Damit wird die Konkurrenz untereinander, die Auseinandersetzungen um Ressourcen, Märkte, Transportwege und billige Arbeitskräfte größer, ihr Spielraum immer enger. Wenn sich das für sie nicht mehr ökonomisch händeln lässt, wird die Option einer militärischen Auseinandersetzung der beteiligten Staaten immer größer und damit auch die Kriegsgefahr. Wir sehen und spüren ja, wie aufgerüstet wird.

Die Frage ist aber doch, wie stark wir, die beteiligten Menschen, die Friedensbewegung sind, um dagegen zu kämpfen. Krieg ist ja kein Naturgesetz, sondern hat mit dem Kräfteverhältnis zu tun.

UZ: Wie würdest du das Kräfteverhältnis einschätzen?

Anne Rieger: Man muss leider sagen, es steht zur Zeit nicht zu unseren Gunsten in Deutschland, der NATO und der EU. Die Konzerne und die für sie handelnden Politiker, fühlen sich seit 1989 so stark, so brutal aufgerüstet, dass sie diese Kriegsgefahr in Kauf nehmen. Aber in Deutschland gibt es seit Jahrzehnten unsere Friedensbewegung, die die Regierenden ein Stück davon abhält, einen großen Krieg zu führen. An regionalen Kriegen waren unsere Regierungen ja leider beteiligt.

Wenn es uns gelingt, mit den jungen Menschen der "Fridays for Future"-Demonstrationen gemeinsame Forderungen und Aktionen dauerhaft zu entwickeln und zu organisieren, die Umwelt- und Klimaproblematik und die Antikriegsfrage zu verbinden, dann können wir das Kräfteverhältnis ein Stückchen zu unseren Gunsten verändern. Wir müssen klar machen, dass Kriege und die Konzerne, die Kriege vorbereiten und aufrüsten, die größten Klimakiller sind.

UZ: Der Klimakiller NATO plant 2020 ein Großmanöver. Über 37000 Soldatinnen und Soldaten werden bei "Defender 2020" die Verlegung von Truppen nach Polen und ins Baltikum üben. Deutschland soll die logistische Drehscheibe dafür sein. Wie will die Friedensbewegung diesem Kriegsspektakel begegnen?

Anne Rieger: Wir müssen - wie immer - als erstes aufklären. Und zum Aufklären gehört, dass wir die Unterschriftensammlungen "Abrüsten statt Aufrüsten" verstärkt weiter führen. 170000 haben bereits unterschrieben. Das Sammeln hilft, an Menschen heranzukommen und mit ihnen zu reden. Dazu müssen wir versuchen, die Gewerkschaften stärker einzubeziehen, weil das natürlich große Multiplikatoren sind. Bei ver.di gelingt das ganz gut. Bei anderen Gewerkschaften müssen wir noch mit mehr Phantasie Druck machen.

Wir werden zudem für Proteste auf der Sicherheitskonferenz in München und natürlich auf den Ostermärschen mobilisieren, denn an den Manövertagen wird die Friedensbewegung entlang der Route Aktionen gegen diese Kriegsprovokation machen. Dass dieses um den 8. Mai, dem Tag 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, stattfindet, fordert uns besonders heraus. Der Osten Deutschlands spielt beim Manöver eine größere Rolle. In Leipzig gab es schon ein Treffen von Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten, an dem gut 70 Menschen teilnahmen, die Aktionen und Organisation abgesprochen haben.

UZ: Frau Merkel lobte während der Generaldebatte im Bundestag die NATO. Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen machen sich für das EU-Militärprojekt "PESCO" stark. Wie passt das zusammen?

Anne Rieger: Das passt leider hervorragend zusammen. Die NATO-Staaten haben sich dem 2-Prozent-Ziel verpflichtet. Das EU-Parlament hat vor zwei Jahren die EU-Staaten aufgefordert, 2 Prozent ihres Jahreshaushalts für die Aufrüstung auszugeben. Da ist überhaupt kein Widerspruch. Es geht um Aufrüstung und in der EU haben sich die "Rüstungsvorreiter" in "PESCO" zusammengeschlossen. In diesem "PESCO" haben sie sich dazu verpflichtet, dass jeder Staat, der in "PESCO" ist, jährlich mehr Geld für die Rüstung ausgeben wird. Ich schätze, dass Deutschland mit Hilfe der EU eine noch tragendere Rolle in der NATO spielen will. Und die deutsche Bourgeoisie hat mit der EU den Vorteil, dass sie mit Frankreich zusammen über Atomwaffen verfügt.

UZ: Der Friedensratschlag möchte ein Verbot von Atomwaffen diskutieren. Wie vielversprechend ist das, nachdem der Atomwaffensperrvertrag aufgekündigt wurde?

Anne Rieger: Die atomare Bedrohung ist dadurch gestiegen. Gleichzeitig gibt es den Atomwaffenverbotsvertrag. Bei den Verhandlungen über diesen Vertrag im Jahr 2017 nahmen die offiziellen und De-Facto-Atommächte sowie die NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande nicht teil. Es liegt an uns, Druck aufzubauen, damit zum Beispiel Deutschland den Vertrag unterschreibt und sich daran hält. Eine große Mehrheit der Menschen ist für die Abschaffung der Atomwaffen. Wir wollen ihnen eine Stimme geben und auch Mut machen, dass Wehren sich lohnt.

UZ: "Fridays for Future" rückte den Klimaschutz gerade in Deutschland in den Mittelpunkt. In den letzten Monaten vereinnahmten staatliche und staaatstragende Institutionen für sich die berechtigte Sorge um das Klima. Auf dem Kasseler Friedensratschlag werden mehrere Referenten zum Klima sprechen. Welche Rolle spielt heute der staatliche Klimaschutz zur Legitimation einer aggressiven Außenpolitik?

Anne Rieger: Die Befürchtung, die sich in der Frage äußert, ist natürlich berechtigt, weil schon mehrere Politiker gesagt haben, dass durch die ungebremste Erderwärmung, die Gefahr besteht, dass mehr Menschen ihre Länder verlassen müssen und dann nach Europa kommen. Damit sie uns nicht überlaufen, müssten die EU-Außengrenzen geschützt werden. Ich lebe zur Zeit in Österreich und dort wird der sogenannten Schutz der EU-Außengrenzen von den führenden Politikern massiv diskutiert.

Auch das Argument, dass in Staaten, in denen aufgrund der klimatischen Veränderungen die Verhältnisse "unübersichtlich" seien und westliches Militär gebraucht würde, damit die Staaten wieder in "ordentliche" Verhältnisse zurückgeführt werden, wird immer häufiger benutzt. Meiner Meinung nach sind das unsägliche Diskussionen, wo der Klimaschutz nur als Vorwand zu weiterer Aufrüstung herangezogen wird.

Das Gespräch führte Christoph Hentschel

Aus: UZ Ausgabe 06.12.2019