Das Prinzip der Steuerüberwälzung

Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern sollen den Markt lenken, täuschen aber nur den Verbraucher

Die Mehrwertsteuer ist eine Massensteuer par excellence. Sobald ein beliebiges Produkt oder eine Dienstleistung erworben wird, fällt sie an. Keine Ware - bis auf Brief- und Paketmarken -, die nicht durch sie verteuert wird. Sie ist die steuerliche Kehrseite der "ungeheuren Warensammlung" (Marx, MEW 23, 49), als die die kapitalistische Wirtschaftsordnung erscheint. Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern eint das Prinzip der Überwälzung der Steuerlast auf den Endverbraucher. Es besagt, dass faktisch nicht der (eigentlich) steuerpflichtige Unternehmer, sondern derjenige, der die Ware oder Dienstleistung erwirbt, die Steuer begleicht. Die Überwälzung der Steuerlast auf die Verbraucherpreise ist keine lästige Nebenerscheinung, sondern vom kapitalistischen Steuersystem so gewollt: Der Gießener Volkswirtschaftsprofessor Wolfgang Scherf beschreibt das Überwälzungsprinzip als "eine Weitergabe der Zahllast an andere Wirtschaftssubjekte. Das nächstliegende und praktisch wichtigste Beispiel ist der Versuch von Unternehmen, Steuerlasten über höhere Güterpreise auf die Abnehmer vorzuwälzen." Auch das Bundesverfassungsgericht gewährt Schützenhilfe: "Die Steuerüberwälzung ist ein wirtschaftlicher Vorgang; das Gesetz überlässt es dem Steuerschuldner, den Steuerbetrag in die Kalkulation einzubeziehen und die Wirtschaftlichkeit seines Unternehmens zu wahren" (BVerfGE 14,76).

Steuern gegen Arbeiter

ArbeiterInnen können ihre Steuer auf niemanden überwälzen. Sie zahlen von ihrem bereits um die Lohnsteuer reduzierten Arbeitslohn die indirekten Steuern, vermittelt über den Preis der Ware oder der Dienstleistung. Der Unternehmer ist nicht belastet: Eine Möbelfabrik M stellt Küchenstühle zum Preis von 50 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer her, das entspricht 59,50 Euro. Diese waren ab Werk veräußert. Im Netto-Abgabepreis von 50 Euro sind Arbeitskosten, Materialkosten, Gestehungskosten (Lagermiete und so weiter) sowie ein 25-prozentiger Gewinnanteil einkalkuliert. Der Großhändler G verkauft den Stuhl (nach Kalkulation von Arbeits-, Gestehungs- und Absatzkosten) zu 100 Euro nebst Mehrwertsteuer, also 119 Euro, an den Endverbraucher. M führt von seinem Umsatz 9,50 Euro an das Finanzamt ab. Ihm bleiben 50 Euro. G erzielt 119 Euro. Den Mehrwertsteueranteil beim Ankauf des Stuhls (9,50 Euro) darf er mit dem Mehrwertsteueranteil der Veräußerung (19 Euro) verrechnen und muss ebenfalls 9,50 Euro an das Finanzamt abführen. Die Mehrwertsteuer ist gewinnneutral, buchhalterisch ein durchlaufender Posten. Der Verbraucher hat hingegen nur eine Möglichkeit, der Mehrwertsteuer zu entgehen: Er kauft keinen Stuhl. Die Mehrwertsteuer ist damit ihrem Wesen nach für jeden, der auf die Anschaffung von Gütern des täglichen Lebens angewiesen ist, eine Zwangssteuer, die nur durch Verzicht vermieden werden kann. An diesem Prinzip ändert auch nichts, dass manche Waren und Dienstleistungen steuerbegünstigt sind, die Mehrwertsteuer also nicht 19 Prozent (Regelsteuersatz), sondern nur 7 Prozent beträgt. Eingeführt würde der begünstigte Mehrwertsteuersatz mit der Begründung, alle Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs (Grundversorgung) sollten nur einer geringeren Verteuerung unterliegen, da ansonsten eine "soziale Schieflage" zu befürchten sei.

Soziale Schieflage nicht beseitigt

50 Jahre Mehrwertsteuer zeigen, dass von dieser Idee nichts übrig geblieben ist. Unzählige Gesetzesänderungen, Ausnahmen und Rückausnahmen haben dazu geführt, dass eine Systematik in der Unterscheidung von Regelsteuersatz und ermäßigtem Satz nicht mehr erkennbar ist. Beim Kauf eines Rennpferds fallen 7 Prozent Mehrwertsteuer an, Babynahrung schlägt mit 19 Prozent zu Buche. Der Trüffelliebhaber erwirbt zu 7 Prozent, Monatshygieneartikel lösen bislang 19 Prozent Mehrwertsteuer aus. Die Frühkartoffel wird mit 7 Prozent beaufschlagt, die Süßkartoffel mit 19 Prozent. Wer seinen Kaffee im Stehen zu sich nimmt, muss nur mit 7 Prozent Mehrwertsteuer rechnen, wer den gleichen Kaffee im Sitzen trinkt, zahlt 19 Prozent Mehrwertsteuer. In den Schreibstuben der Finanzverwaltung kursieren zahllose Erläuterungsschreiben des Bundesfinanzministeriums, die zum Teil auf über 100 Seiten Handreichungen zum Verständnis der Mehrwertsteuer-Dickichts geben. Der Grund für das groteske Wirrwarr liegt in der Willfährigkeit des Finanzministeriums, wenn es um die Durchsetzung der Ziele von Industrielobbyisten geht. Man erinnert sich in diesem Kontext an die FDP, die dafür sorgte, dass 2014 zur Wettbewerbsverbesserung ihr Hotelierklientel mit dem günstigen Mehrwertsteuersatz versorgt worden ist.

Durch die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze verspricht sich der Staat einen Lenkungseffekt für das Verbraucherverhalten. Die Grundthese lautet: Ein höherer Steuersatz führt zu verringertem Produktabsatz, ein günstiger Steuersatz sorgt für höhere Absatzzahlen. Augenfällig wurde dies zuletzt anlässlich des Klimapakets der Bundesregierung und der Ankündigung, den Mehrwertsteuersatz für Bahnfahrkarten von momentan 19 auf in Zukunft 7 Prozent zu senken. Dadurch würde der Anreiz verstärkt, vom Auto auf die klimafreundliche Bahn umzusteigen. Strukturell ähnlich - allerdings in entgegengesetzter Richtung - ist das Vorhaben der Grünen, den Mehrwertsteuersatz für Fleisch auf 19 Prozent zu erhöhen. Ganz nach der Gleichung: Höherer Preis - sinkender Absatz - Abbau der Massentierhaltung.

Lenkungseffekt?

Dem Steuerrecht kann die Deckung des Staatshaushalts und damit die Funktionsfähigkeit des Staatsapparats nicht egal sein. Hauptzweck der Besteuerung ist daher regelmäßig die Steuererzielung. Durch Paragraf 3 (1) Abgabenordnung ("Die Erzielung von Einnahmen kann Nebenzweck sein") wird dem Steuergesetzgeber die Möglichkeit eröffnet, neben der fiskalischen Funktion auch andere Zwecke zu verfolgen. Der Gesichtspunkt der Steuereinnahme kann folglich zweitrangig sein. Es kann aus der Sicht bestimmter Fraktionen kapitalistischer Unternehmensverbände geboten sein, den Besteuerungsmechanismus auch zur Lenkung der Nachfrage einzusetzen. Bestimmte Produkte und Dienstleistungen werden dann durch einen Wechsel in der Besteuerung gefördert oder aber ihre Marktrelevanz wird gedrosselt. Im Jahre 1923 formulierte der britische Ökonom Arthur Cecil Pigou (1877 - 1959) die theoretischen Grundlagen staatlicher Lenkungssteuern. Durch die Besteuerung einer schädigenden oder unerwünschten Aktivität steigen für den Verursacher die Stückkosten. Dies veranlasse ihn, die Produktions- bzw. die Konsummenge zu reduzieren, da die steuerlich verteuerten Waren zu einem Nachfragerückgang führten.

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes und des Bundesverfassungsgerichts betonen die Zulässigkeit solcher Lenkungszwecke. Beispiele marktregulatorischer Eingriffe des Staates auf dem Wege kreativer Steuergestaltung gibt es unzählige.

Praxisuntauglich

Kurz nach der Jahrtausendwende warf die Getränkenindustrie in Ansehung neuer Märkte die Alkopops auf den Markt. Die Getränke ("Süß, klebrig, hochprozentig") wurden fortan zumeist von Jugendlichen und Heranwachsenden in hohen Mengen gekauft. Nach der Einführung der Alkopop-Steuer 2004 (Arbeitstitel: "Sondersteuer zum Wohle junger Menschen") ging der Absatz zurück, die Steuereinnahmen sanken von 10 Millionen Euro (2005) auf mittlerweile stabile 2,4 Millionen Euro jährlich. Tatsächlich verlagerte sich allerdings der Konsum auf Wein- und Biermischgetränke. Fazit: Einnahmen erzielt, Wirkung verfehlt.

Am 28. Dezember 1968 sorgte das Verkehrsministerium von Georg Leber (SPD) für die Einführung der Sonderbesteuerung des Straßengüterverkehrs. Vorgebliches Ziel des "Leberpfennigs" war die Entlastung des Straßennetzes von schweren LKWs und der Ausbau der Gütertransportkapazitäten der Deutschen Bahn. Das Verhältnis von Gütern auf der Straße (90 Prozent) zu Gütern auf der Schiene (10 Prozent) hat sich seit Jahrzehnten nicht wesentlich geändert. Fazit: Einnahmen erzielt, Wirkung verfehlt.

Gleiches gilt für die Ökosteuer, ohne die nicht die Umwelt, aber das Rentensystem zusammengebrochen wäre (siehe UZ vom 18. Oktober). Schon im Jahre 2005, also fünf Jahre nach dem pompösen Einläuten der "ökologischen Steuerwende", besagt die Zollstatistik, dass auf einen Euro, der in die Rentenkasse floss, ganze 0,63 Cent aus der Förderung erneuerbarer Energien verwandt wurden. Die "Welt" meldete am 4. Februar 2018: "Mit 41 Milliarden Euro haben die Einnahmen aus der Mineralölsteuer den höchsten Stand seit 14 Jahren erreicht." Auch das zeigt, dass die vermeintliche Lenkungswirkung mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist.

Den Verbraucher täuschen

Der Lenkungsmechanismus indirekter Steuern tritt in Konkurrenz zum ureigenen fiskalischen Interesse des Staates. Eine Steuer, die nur die Verhaltensänderung von Verbrauchern bezwecken will, und dies auch auf die Gefahr hin, dass die Steuereinnahmen bei Erreichen des Zwecks auf "Null" sinken ("Erdrosselungssteuer"), lässt schon das Grundgesetz nicht zu. Wenn die "steuerliche Lenkung nach Gewicht und Auswirkung einer verbindlichen Verhaltensregel nahekommt, die Finanzierungsfunktion der Steuer also durch eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter verdrängt wird", ist die Steuer unzulässig (Bundesfinanzhof, Urteil vom 25.4.2018, II R 42/15). Der Ansatz von Pigou - die Erzielung effektiver Lenkungseffekte - ist durch die steuerliche Praxis widerlegt worden. Übrig geblieben ist nur der propagandistische Effekt. Und der wird weidlich ausgenutzt. Quer durch alle bürgerlichen Parteien gelten Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern als Allheilmittel zur "Steuerung des Marktes". Die Bourgeoisie setzt dabei bewusst auf Täuschung. Schon Marx hat dies 1867 entlarvt: Das System der indirekten Besteuerung funktioniert nur "weil indirekte Steuern dem einzelnen verbergen, was er an den Staat zahlt" (MEW 16, 198). Es ist die Aufgabe der Kommunisten in den aktuellen Debatten, dieses Wesen der indirekten Steuern immer wieder zu entlarven.

Von Ralf Hohmann

Aus: UZ, Ausgabe 29.11.2019