Was über die EU-Verfassung gesagt wird...
... und was darin steht
"Die EU-Verfassung sichert Kündigungsschutz, Streikrecht, Sozialpflichtigkeit des Eigentums". Das steht im Vorspann zur Dokumentation der Frankfurter Rundschau zur EU-Verfassung Teil IV.
Die UZ-Redaktion wollte sich nicht nachsagen lassen, sie habe an der Unkenntnis der Deutschen über den Inhalt der EU-Verfassung Mitschuld. Aber selbst bei großzügigster Auslegung des Textes der Dokumentation findet sich keine Bestätigung für die Aussage im Vorspann. Nicht nur, dass die Begriffe Kündigungsschutz, Sozialpflichtigkeit und Eigentum im Text nicht vorkommen, es gibt auch keine Entsprechungen. Allerdings wird aus der EU-Verfassung ausgeklammert: "... das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht." So steht es im Verfassungstext, der damit hintenherum die Aussperrung adelt.
Im Vorspann der Zeitung heißt es weiter: "Soziale Standards dagegen wurden lange Zeit vernachlässigt. Die EU-Verfassung schließt nun diese Lücke, überlässt die Ausgestaltung der Regeln aber den Mitgliedstaaten."
Es finden sich dazu jedoch im Verfassungstext nur Floskeln wie "wobei die einzelstaatlichen Gepflogenheiten in Bezug auf die Verantwortung der Sozialpartner berücksichtigt (!) werden", oder die Bestimmungen "berühren nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, und dürfen das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht erheblich (!) beeinträchtigen", ferner: Sie "hindern die Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu erlassen, die mit der Verfassung vereinbar (!) sind."
Vernünftige Errungenschaften der Mitgliedsstaaten werden also stets durch den Verfassungstext in Frage gestellt: Keine erheblichen finanziellen Unterschiede, und alles muss mit der EU-Verfassung und ihren Prinzipien vereinbar sein.
Das Grundprinzip der Verfassung ist eben nicht die soziale, sondern die freie Marktwirtschaft, der Neoliberalismus. Der "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (III-178) bestimmt und prägt die Verfassung.
Auch die Zeitungs-Darstellung der Außen- und Verteidigungspolitik, wie sie in der EU-Verfassung verankert ist, und friedenspolitische Aussagen etwa des deutschen Grundgesetzes (Armee nur zur Verteidigung, Verbot der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges) aushebelt, ist auf einem Niveau, zu dem vielleicht die Überschrift passen würde "Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung informiert", das aber nicht einer unabhängigen Tageszeitung angemessen ist. Da wird in der Frankfurter Rundschau vom 10. Mai 2005 kühn behauptet und kräftig kommentiert, aber fast jedes wirkliche Zitat widerlegt die Überschrift "Sicherung gegen Abenteuer - Die EU-Verfassung leistet entgegen manchen Befürchtungen keiner Militarisierung der Außenpolitik Vorschub".
Wer als Freund des deutschen Grundgesetzes den Text der EU-Verfassung gelesen hat, dem kann nur das Gruseln kommen. Und dies umso mehr, wenn er den Artikel I-6 liest: "Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten."
Gute Nacht, Sozialstaat! Gute Nacht, friedliches Europa. Gute Nacht, Grundgesetz!
Ulrich Sander