"Was in den besetzten Gebieten geschieht, ist schlimmer als Apartheid"

Israel unterdrückt die Palästinenser - viele ehemalige Freiheitskämpfer erinnert dies an das rassistische Regime in Südafrika. Ein Gespräch mit Farid Esack

Interview: Karin Leukefeld

Farid Esack ist ein islamischer Befreiungstheologe aus Südafrika. Er war unter Nelson Mandela Beauftragter für Gendergerechtigkeit. In seiner Heimat engagiert er sich in der Initiative "Boycott, Divestment, Sanctions" (BDS), die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Im diesem Wintersemester ist er Gastprofessor an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg

jW: Sie wurden 1959 in Südafrika geboren, wuchsen in der Zeit der Apartheid auf und kämpften dagegen. Ein enger Verbündeter des Regimes war damals Israel, lassen sich die beiden Systeme vergleichen?

Man muss unterscheiden zwischen einerseits Israel und andererseits dessen Verhalten in den besetzten palästinensischen Gebieten. Was den Staat Israel betrifft, sind beide Systeme vergleichbar: die tägliche Diskriminierung der Palästinenser, die unterschiedlichen Gesetze, die für die arabischen und die jüdischen Bürger gelten. Diese diskriminieren ganz klar in der Frage von Land- und Hauseigentum, aber auch im sozialen Bereich wie bei der Bildung oder der Gesundheitsversorgung. Die Antwort ist also ja, die Apartheid Südafrikas ist dem System im heutigen Staat Israel vergleichbar. Was die Lage in den besetzten Gebieten betrifft - beispielsweise hinsichtlich der Kontrolle der Ressourcen -, ist ein solcher Vergleich nicht zulässig, dort ist es viel schlimmer, als es in Südafrika war.

jW: Geben Sie bitte ein Beispiel.

Wir Schwarzafrikaner konnten uns von einem Ort zum anderen bewegen. Israel hat eine Mauer gebaut. Es gibt Straßen für jüdische und für arabisch-palästinensische Bürger, für letztere gibt es zudem Kontrollpunkte. Jeder Südafrikaner, der aktiv gegen die Apartheid gekämpft hat und in Israel und in den besetzten Gebieten war, hat gesagt, dass die allgemeinen Lebensbedingungen für die Palästinenser viel schlimmer sind, als es unser Leben als Schwarzafrikaner während der Apartheid war.

jW: Die Lage der Palästinenser wird nur selten in Deutschland öffentlich thematisiert. Sind Südafrikaner sensibler für die Ungerechtigkeit?

Wenn ich als Schwarzafrikaner nach Israel reise, ist das System der Apartheid für mich sofort sichtbar. Das ist sicherlich die eigene Erfahrung, die dafür sensibilisiert. Außerdem waren die Palästinenser immer solidarisch mit unserem Kampf und dem Afrikanischen Nationalkongress.

Auf der anderen Seite hatte Tel Aviv immer Pretoria unterstützt. Beide Regierungen haben Waffengeschäfte abgewickelt, es gab sogar eine gemeinsame Rüstungsproduktion. Deswegen gibt es viele Südafrikaner, die zornig auf Israel sind. Es gibt daher in unserer Gesellschaft einen breiten Konsens, dass die Palästinenser in ihrem Kampf für ihre Rechte und um Gerechtigkeit unterstützt werden müssen. Es ist ein Tabu, sich mehr für Israel zu engagieren als für die Palästinenser.

jW: Ein Tabu mit umgekehrten Vorzeichen gibt es in Deutschland ...

Ich bin nicht nur Schwarzafrikaner, sondern auch Internationalist und akzeptiere den Kampf aller Menschen um ihre Rechte. Ob es um die Geschlechterfrage oder um die Umwelt geht, ich bin dafür ebenso sensibel wie für den Kampf der Palästinenser um Gerechtigkeit.

jW: In Deutschland steht beim Thema Israel die Schuld für die Verbrechen der Nazis an erster Stelle. Kritik am Vorgehen Tel Avivs wird zum Schweigen gebracht. Trägt dies zur anhaltenden Unterdrückung bei?

Auf jeden Fall. Europa hat viel zu lange geschwiegen. Es ist verständlich angesichts der Geschichte, dass man den USA für den Marshallplan dankbar ist. Doch diese Schuld Europas und Deutschlands gegenüber den USA ist längst zum Bindeglied globaler finanzieller Interessen geworden, Europa ist zum Komplizen der US-amerikanischen Politik im Mittleren Osten geworden. Damit hat der globale Norden es Netanjahu und Israel ermöglicht, immer neue Siedlungen zu bauen.

Außerdem hat die Lobby Israels Wege gefunden, Menschen auf skrupellose Weise zum Schweigen zu bringen. Dabei möchte ich ausdrücklich sagen, dass diese Lobby nicht die jüdische Gemeinschaft ist. Sehr viele Juden in der ganzen Welt setzen sich für Gerechtigkeit ein. Das haben wir auch in unserem Kampf gegen die Apartheid erlebt. Zu unseren größten Helden gehörten Joe Slovo oder Denis Goldberg. Die Idee, dass Gut und Böse im Blut der Menschen sei, ist unwissenschaftlich und einfach absurd.

Aus jW 07.02.2017