BILD schoss mit

Im Jahr 1968 riefen deutsche Medien zur Gewalt auf

Am 11. April 1968, Gründonnerstag, wurde Rudi Dutschke durch Schüsse des Faschisten Josef Bachmann in Berlin schwer verletzt. An den Spätfolgen starb er im Dezember 1979.

Nur wenige Stunden nach dem Attentat organisierte sich in der gesamten Bundesrepublik und in Westberlin der Protest. Von Karfreitag bis Ostermontag sammelten sich große Menschenmassen vor den Druckereien der "Bild"-Zeitung und versuchten, deren Auslieferung zu verhindern. In München kamen dabei der Fotoreporter Klaus Frings und der Student Jürgen Schreck ums Leben.

Die erstaunlich schnelle und breite Mobilisierung - ohne Internet und Flashmobs - lässt sich nur dadurch erklären, dass sich schon lange vorher ein Potential angesammelt hatte, das sofort aktionsbereit und -fähig gewesen ist. Diese gesteigerte Aktionsbereitschaft bestand spätestens seit dem 2. Juni 1967, als in Westberlin der Student Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde, der - wie erst vierzig Jahre später bekannt wurde - zugleich verdecktes Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Westberlin und Informant des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR war.

Beide Tatsachen haben nichts miteinander zu tun. Kurras handelte als Beamter des Westberliner Senats. Aber wenn wir Kommunisten an die damaligen Vorgänge erinnern, dürfen wir an diesem unerfreulichen Zusammenhang nicht mit Verschweigen vorübergehen.

Nicht erst seit dem 2. Juni 1967, sondern seit 1948 herrschte in Westberlin eine Bürgerkriegsatmosphäre - es war tatsächlich eine Frontstadt. Nach dem 13. August 1961 fanden kommunistische Arbeiter in Westberliner Betrieben ihre Werkbänke mit Stacheldraht - angebracht von ihren eigenen Kollegen - vor. Seit Anfang 1968 lag Gewalt in der Luft. Der Springer-Konzern war Kampagnenführer. Nach der Westberliner Vietnam-Demonstration vom 18. Februar rief der Senat zu einer Gegenkundgebung auf, an deren Rand ein junger Mann, der mit Rudi Dutschke verwechselt wurde, fast gelyncht worden wäre. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz aber heizte ein: "Schaut euch diese Typen an!" Als Josef Bachmann knapp zwei Monate später feuerte, konnte er sich einbilden, im Einklang mit der Mehrheitsmeinung und gleichsam in staatlichem Auftrag zu handeln.

Wer vom Aufbruch der Jugend vor 50 Jahren spricht, denkt oft an Woodstock. Aber das war erst 1969. Das Jahr 1968 jedoch war nicht von Flower-Power geprägt, sondern von blutiger Gewalt. Am 4. April wurde Martin Luther King ermordet. Die schrecklichste Gewalt dieser Jahre aber ist in diesen Jahren von den USA in Vietnam ausgeübt worden. Als in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Thorwald Proll in zwei Kaufhäusern in Frankfurt/Main Brände legten, verstanden sie dies als eine Demonstrationstat: Gewalt gegen Sachen, bei der keine Menschen gefährdet wurden, als Hinweis auf die Heuchelei, mit der die veröffentlichte Meinung sich über einen Kaufhausbrand in Brüssel erregte, aber über das Morden in Indochina schwieg. Skandalisiert wurde nur ihre Aktion, nicht das viel größere Verbrechen, auf das sie aufmerksam machen wollten. Die vergleichsweise harmlose Gegengewalt von links wurde als die einzige Gewalt überhaupt ausgegeben, nicht ihre Ursache. Auch im Verhältnis der Schüsse auf Dutschke einerseits, Osterblockaden andererseits fand sofort diese Verkehrung statt. Es wurde sogar über ein Verbot des SDS diskutiert.

Es wird behauptet, inzwischen habe sich zumindest die Bundesrepublik zivilisiert und zu friedlicheren Formen der Konfliktaustragung gefunden. Dies nennt man: "Sich in die Tasche lügen". Nach Angaben der "Amadeu Antonio Stiftung" sind von 1990 bis 2016 mindestens 195 Menschen in der Bundesrepublik Todesopfer faschistischer (sie selbst nennt es "rechtsextremer") Gewalt geworden. Hinzu kommt die stumme strukturelle Gewalt, durch die alljährlich Tausende im Mittelmeer ertrinken.

Form und Ausmaß der Mobilisierung, die nötig wäre, um dagegen angemessen zu reagieren, sind gegenwärtig überhaupt nicht absehbar.

Autor: Georg Fülberth, UZ, Ausgabe 06.04.2018